… denn „so“ heißt in Deutschland das gleiche wie in Japan, nämlich „so“ …

sososososo AndachtsÜbungen von Ruth Geiersberger

mit Judith Hummel, Peter Jolesch, Gerd Kötter, Martina Koppelstetter, Masako Ohta, Sebi Tramontana und Ruth Geiersberger

Anfangen in der Münzsammlung. Einkehren, staunen, das Stempelbuch besorgen. Dann in die Staatsbibliothek gehen, einkehren, still werden, schauen. Als Erinnerung: einen Stempel mitnehmen. Dagewesen sein. Weitergehen. Zum Staatsballett-Probenraum, einkehren, schauen, Stempel abholen. Von dort zum Valentin-Karlstadt-Musäum, zur Artothek, ins Alten-Service-Zentrum und schließlich in die Lukaskirche – einkehren, innehalten, schauen, Stempel abholen. Bis das Buch voll ist. Dagewesen sein.
Inspiriert von ihrer Japanreise bietet Ruth Geiersberger im September einen „Andachts-Parcours“ in München an. Die einzelnen Stationen werden von der Performerin Judith Hummel, dem Tänzer Peter Jolesch und den Musikern Gerd Kötter, Martina Koppelstetter, Masako Ohta und Sebi Tramontana sowie von Ruth Geiersberger selbst „bespielt“. Ein gelbes „Andachtsquadrat“ markiert ihren jeweiligen Verrichtungsort. An jeder Station kann sich der Besucher einen „Andachtsstempel“ abholen. Zu bestimmten Terminen erklärt Bernd Schäfer, ehemaliger Polizist und Kunstvermittler bei der documenta 2012, den Gästen die jeweilige Station.

Uraufführung: 16. – 27. September 2013 an verschiedenen Orten in München

Begleitet wird das Projekt von den Videokünstlern Vogl&Hentschel.
Assistenz: Simon Spehr | Stempeldesign & Grafik: nokidesign | PR: Pfau PR

Credits: gefördert von der Landeshauptstadt München, Kulturreferat

Notizen TAG 1

Der Lesesaal der Staatsbibliothek liegt vor mir. Er ist wirklich groß. Ich weiß, dass ich das gelbe Andachtsquadrat im Mittelgang aufbaue, aber selbst das erscheint mir als eine Herausforderung: Ganz vorne, direkt neben der Glastür? Nein, das ist zu offensiv. In der Mitte? Nein, das ist zu symmetrisch. Etwas hinter der Mitte? Ja, eventuell. Oder lieber kurz vor der Mitte? Ja, auch möglich. Ich entscheide mich zögerlich für das ‚kurz hinter der Mitte‘, etwas mehr auf der rechten Seite, so dass ich, wenn ich meinen Arm ausstrecke den Tisch erreiche, auf dem ich meine Schreibutensilien drapiere. Hier baue ich mein Quadrat und die zwei Stühle auf. (….) Ich beginne zu schreiben. Es ist angenehm abzutauchen und ich gebe mir die Aufgabe, mich allein auf den Text und das Schreiben zu konzentrieren. Manchmal schaue ich auf. Mein Blick trifft den einer Frau, die mir sehr offen in die Augen sieht. Wir lächeln uns an und sie geht vorbei. Später kommt sie wieder und nimmt Platz. Meine erste Besucherin. Sofort ist eine Art Anspannung da. Ich begrüße sie und teile ihr mit,  dass sie da sitzen kann und ich weiter schreiben werde. Meine Konzentration ist mit ihr anders, aber meist schaffe ich es, beim Schreiben zu bleiben. Nach einer ganzen Zeit steht sie auf, bedankt sich und geht. Es war schön, dass sie sich gesetzt hat und da war, aber ich freue mich auch, wieder allein, ungestört mit meinem Quadrat zu sein.

Notizen TAG 3

Ich nehme Platz an meinem eingerichteten Ort. Es zieht mir in den Nacken durch die auf- und zugehende Glastüre. Doch nicht mein Ort. Ich ziehe das Quadrat einige Meter weiter nach vorne. Nehme wieder Platz. Rücke immer wieder die zwei Stühle nebeneinander zurecht. Komme mir leicht zwanghaft vor, wie ich nach Ordnung suche und fühle mich eingesperrt mit mir und meinem Quadrat und dem Stuhl neben mir. Egal. Ich möchte anfangen und öffne mein Buch. Wie schreibe ich? Ganz exakt, ebenmäßig. Mache ich dieselben Absätze wie im Ovidschen Buch? Folge ich genau dem Vorgegebenen oder ändere ich ab? Auch hier leichte bis starke Zwanghaftigkeit vorhanden. Verstehe ich, was ich schreibe? Kommen die Sätze in meinem Kopf an? Mir fällt auf, dass ich ein anderes Schreibwerk als den Kugelschreiber möchte. Finde den Kugelschreiber unpassend. Möchte Tinte, damit etwas Warmes, Wohliges hereinkommt. Die Strenge aufbrechen. Es ist mir alles so kalt hier. Die Menschen ziehen an mir vorbei. Ignorieren mich. Und ich sitze da auf meinem Stuhl, ganz exakt angeordnet, mit ganz exakt geschriebenen Zeilen. Es passt noch nicht. (…) Später kommt meine erste Besucherin mit Leporello aus der Münzsammlung. Etwas außer Atem kommt sie an und fragt: „Sind Sie die, die sitzt?“ Ich bejahe und biete ihr den Platz neben mir an. Sie erzählt mir, dass sie im ganzen Haus unterwegs war, überall gefragt und mich nicht gefunden hat. Dann sind wir kurz still. Sie sitzt neben mir, ich schreibe. (…) Auch morgen werde ich mir einen neuen Ort suchen und Tinte besorgen.

Notizen TAG 5

Ich beginne nun jeden Arbeitstag mit einer Runde zu Pförtner und Infothek, um zu melden, dass ich da bin und wo ich heute mit Quadrat anzutreffen bin. Den ‚Bruch‘ mit dem tatsächlichen Quadrat setze ich fort und platziere das Quadrat geöffnet an einen Tisch im Haupteingangsraum. Eva Forler kommt zu Besuch. Ich rücke meinen Stuhl vom Tisch weg zu ihr. Lege das Buch wieder auf meinen Schoß, schreibe. Sie liest mit mir und beginnt leise, die Worte zu diktieren. Das ‚zweite Buch‘ aus Ovids Metamorphosen beginnt.

sososososo, 2013

Notizen TAG 2

Ich möchte mir einen anderen Ort suchen. Kann mich schwer entscheiden und stehe unschlüssig am Eingang. Will woanders hin. Ausprobieren. Ich gehe zum Abholraum für bestellte Bücher. Er ist voller Regale mir schmalen Gängen. In einem der Gänge baue ich meinen Platz auf und beginne die Arbeit. Hier fühlt es sich etwas einsam an. Wenige Menschen, die vorbeilaufen. Ganz konträr zu gestern. Wenn jemand vorbei kommt, scheint die Person wenig Notiz von mir zu nehmen. Ich rücke mein Quadrat etwas näher zum Eingang, so dass man eigentlich an mir vorbei MUSS, wenn man ein Buch abholt. Es funktioniert. Ich habe etwas mehr Laufkundschaft. Ein junger Mann kommt zu mir und fragt, was der Stuhl tut. Er setzt sich, im Arm sicher sechs dicke Bücher, sitzt kerzengerade und springt nach drei Sekunden wieder auf. Die Regaldamen machen mich darauf aufmerksam, dass das kein guter Ort ist, trotz Kunst. Es sei hier eher störend. Ich ziehe um. Ganz vorne, direkt bei der Pflanze neben der Eingangsglastüre. Ich schreibe, murmele manchmal das, was ich schreibe und vertiefe mich mehr und mehr in die Ovidschen Sätze.

Notizen TAG 4

„Judith Hummel sitzt und schreibt im Lesesaal 1. Stock. Der Ort innerhalb des Lesesaals kann sich ändern!“ Informationsblätter, die nun beim Pförtner und der Infothek verteilt sind, so dass man mich in diesem großen Bibliotheksort findet. Heute platziere ich mich auf der 2. Ebene des Lesesaals und das Quadrat wird zur Linie. An dem einen Ende der Linie steht ein Tisch, am anderen Ende der Besucher-Andachtsstuhl. Ich platziere mich zum ersten Mal direkt am Tisch. Sehr komfortabel. Und das Schreiben erfolgt mit der neu besorgten Feder und Tusche. Die Schrift ändert sich enorm. Größer und irgendwie wirkt es deutlich freier. Der Abstand von Tisch und Stuhl kreiert eine Distanz, die ich mag. Sie verleitet mich nicht weiter zum Sprechen mit Besuchern. An diesem Tag besuchen mich Ruth und Rainer und eine weitere Dame mit Leporello. Sie bleiben nicht lange, aber sie sitzen, sind da und betrachten. Und holen sich dann ihren Stempel bei mir ab. Strukturen bauen. Die Sitzung heute fühlt sich stimmig an.

Notizen TAG 6

Ich wiederhole das Setting von Tag vier. Zweite Ebene, Linie zum Tisch. Es kommt kein einziger Besucher vorbei. Ich sitze und schreibe.

Notizen TAG 7

Das Quadrat teilt heute im Zickzack den Durchgang bei der Treppe hoch zur Zweite Ebene. Ganz neuer Platz. Ich mag es hier. Dort sitze ich zunächst allein. Und dann kommt da diese ältere Dame, die sich ruhig mir gegenüber auf den Andachtsstuhl setzt und tatsächlich irgendwie Andacht übt. Ich merke ihr an, dass sie nicht gleich gehen wird oder sich langweilt. Nach einiger Zeit stehe ich also auf und setze mich zu ihr. Sie interessiert mich. Ich gebe ihr das Buch, sie hält es für mich und ich schreibe weiter. Dann reiche ich ihr auch die Tusche und sie hält mir auch diese. Leise, aufmerksam sitzt sie neben mir und verfolgt mein Schreiben. Und dann sagt sie irgendwann: „Ich schreibe so gerne.“ Ich glaube, nicht recht zu hören und biete ihr an, weiter zu schreiben. Das tut sie und setzt sich dafür auf meinen Schreibplatz. Ich hingegen sitze nun auf dem Andachtsstuhl und sehe ihr zu. Und es ist wunderbar dieser Frau beim Schreiben zuzusehen, wie sie da sitzt und konzentriert in das Buch hineinschreibt. Ich bin ein bisschen selig heute.